Botschaften

Tot lag die Brieftaube in der Hand des Peregriners. Blut lief über die gelben Federn. Der Peregriner rief seine Freunde. Neugierig und ungeduldig durchsuchten sie den Leichnam. Aber auch diese Taube schien keine Botschaft des Gegners, der Palomaner, an sich zu tragen, weder an einem Bein, noch an einer Feder noch sonst wo an ihrem Körper. Die Peregriner verzweifelten. Denn schon viele Brieftauben hatten sie gefangen. Keine trug eine sichtbare Nachricht, und so blieben die Palomaner unbesiegbar. Um jeden Preis wollten sich die Peregriner die Errungenschaften der Palomaner aneignen, ein Wunsch, der wegen der palomanischen Brieftauben unerreichbar zu werden schien. "Wir werden diese verdammten Brieftauben ausrotten", schimpfte der Anführer der Peregriner.

Die Palomaner mussten auf Brieftauben zur Nachrichtenübermittlung zurückgreifen, weil sich inzwischen alle Arten von Wellen im Luftraum abfangen und entschlüsseln ließen. Wieder schossen die Peregriner eine erschöpfte Brieftaube ab. Diesmal eine blaue, die bis in die tiefsten Strukturen untersucht werden sollte. Jede Feder wurde genau betrachtet. "Schöne Farben haben sie ja", bemerkte dabei der Anatomiespezialist der Peregriner, und das war alles, was sich an den Federn feststellen ließ. Alle Organe und Gewebe wurden sorgsam entnommen und separiert. Sie entdeckten keine Verletzung, keinen Mikrochip, keine Metalle, keine Nanopartikel oder andere Fremdsubstanzen, die als Nachrichtenträger dienen könnten. Im Magen fanden sie neben zerkleinerten Körnern bunte Kieselsteinchen. Aus diesen ließ sich jedoch nichts herauslesen. Der Darminhalt war durchgehend dünnflüssig und ohne feste Bestandteile. In diesem Brei konnte keine Nachricht versteckt sein. In den Knochen war nur das Mark. Das Blut gerann wie üblich schnell, ohne dass sich in dem dunkelroten Grind etwas finden ließ, und auch in den Zehennägeln war nichts versteckt. Wie könnte der Code noch aussehen und wo wäre er zu suchen? Die Peregriner schienen am Ende zu sein. Da man in den letzten Jahrzehnten Haustauben der Art Columba livia allgemein vernachlässigt hatte, war auch das Wissen über sie zum großen Teil verloren gegangen, und die alte Literatur konnte nicht weiterhelfen. Waren die Brieftauben der Palomaner vielleicht nur ein Ablenkungsmanöver? Man hielt Ausschau nach anderen Vögeln. Eine Rabenkrähe wurde abgeschossen. Aber auch an und in ihr ließ sich keine Nachricht finden. Man dachte natürlich auch an neue Arten von Wellen und Teilchen. Doch da waren alle Möglichkeiten ausgeschöpft.

So richteten die Peregriner ein Institut mit Speziallaboren für alle bekannten biochemischen und molekularbiologischen Analysemethoden ein. Zuerst suchten sie die Magnetrezeptoren. "Es gibt zwei Typen von ihnen", sagte der Leiter des Labors: "Einer ist in der Nase, die bei Brieftauben im Vergleich zur Felsentaube größer ist, und einer im Auge." Aber einer der Wissenschaftler stellte fest: "Ich denke nicht, dass die Palomaner irgendetwas an den Magnetrezeptoren verändern würden, denn dann könnten die Tauben ihr Ziel ja nicht mehr finden." Dieses Argument war überzeugend, und man stellte die Untersuchungen dazu ein.
Jetzt dachte man an eine zusätzliche Information im Erbgut. "Es wäre immerhin möglich, dass die Palomaner mit gentechnologischen Methoden manipulierte und Informationen tragende Nukleinsäuremoleküle in bestimmte Zellen geschleust haben", meinte der Institutsleiter. So suchten die Peregriner nach Änderungen in allen Nukleinsäurearten. Aber keine zusätzliche oder veränderte Information ließ sich im Erbgut der erlegten Brieftauben finden. Nichts Neues zeigte sich, auch nicht bei den kurzen Molekülen. "Wir brechen hier ab", fluchte ein Laborleiter und warf die Pipetten weg. In ihrer Verzweiflung untersuchten die Peregriner die Strukturen der Proteine. "Wir suchen nach Proteinen in einer anderen Faltung. Man nennt Sie auch Prionen", erklärte ein Wissenschaftler. "Aber das ist absurd. Die Tiere würden erkranken. Man bekäme es mit Taubenwahnsinn zu tun", antwortete ein Kollege. "Prionen können in jedem Gewebe vorkommen und müssen nicht zu einer Krankheit führen", war die Antwort. Im Vergleich zu ihren eigenen Brieftauben ließen sich jedoch weder in den Proteinstrukturen noch im Verhalten Unterschiede feststellen. "Wir müssen hier aufgeben und woanders suchen", stöhnte der Institutsleiter. Aber wo man noch hätte suchen können, wusste keiner.
Die Palomaner waren zufrieden. Sie züchteten Brieftauben in vielen verschiedenen Farben. Es starteten immer drei Tauben der gleichen Farbe. Dass die Peregriner alle drei Tauben eines Fluges fangen würden, war unwahrscheinlich. Eine sollte mindestens durchkommen. Danach ließ man drei Tauben einer anderen Farbe fliegen. Gegenwärtig benützten die Palomaner für die Übertragung der Information fünf verschiedene Farben, nämlich blau, schwarz, rot, gelb und rotfahl. Bei der Benützung von fünf verschiedenen Farben konnten sie so mit drei Flügen 5 * 5 * 5 = 125 verschiedene Nachrichten übermitteln, bei sechs Flügen sogar 15.625. Die Reihenfolge der Farben war der Schlüssel. Um den Gegner noch mehr zu täuschen, ließen die Palomaner einzelne Brieftauben in den nicht für die Codierung verwendeten Farben wie gelbfahl oder weiß fliegen.

Dr. Hubert Hug  Schliengen-Niedereggenen.

Walter Stettler CH Binningen www.flugtippler.ch

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