TAUBEN UM JEDEN PREIS

Der nachfolgende Bericht stammt aus der Feder von Elke und Ingolf Jungnickel. Der Hauptdarsteller ist Rolf Richter (NL).

Es beginnt im Jahr 1944 in Hamburg-Bergdorf. Rolf erinnert sich an die tägliche Radfahrt mit dem Vater, sitzend auf der Lenkstange, hin zum Garten der Großmutter in den benachbarten Stadtteil Vierlanden. Dort fanden sie noch ein kleines Paradies. Der Garten versorgte die Familie Richter regelmäßig mit frischem Obst und Gemüse. Es gab dort auch ein Milchschaf, Kaninchen und Hühner. In jenen Kindheitstagen entwickelte sich nach Rolfs Überzeugung ent-scheidend seine enge Naturverbundenheit.

Sieben  Jahre später, nämlich 1951, nach dem Umzug der Familie in die Säge-mühlestr. in Hamburgs „Taubenstadtteil“ Altona, kam er zu seinen ersten Tauben. Rundum gab es in allen Straßen Schlaganlagen in den kleinen Hinterhofgärten. Und auf den Dächern der mehrstöckigen Wohnhäuser die bekannten Hamburger Taubenklappen, nach ihrer Funktion auch Jage- oder Stehklappen genannt (siehe www.Flugtippler.ch  Link, Berichte / 30 Jahre Hochflugtaubensport).

Die  täglich aufgelassenen Flugstiche von zumeist Hamburger Tümmlerrassen, aber auch von Wiener Hochfliegern und Mövchen, liess Rolfs Drang nach eigenen Tauben immer stärker werden. Allerdings erschienen die Hindernisse nahezu unüberwindbar: Er besaß weder eigene taubenzüchterische Erfahrung, noch einen Pfennig Geld zum Taubenerwerb. Und die Eltern hatten zur Zeit völlig andere Dinge als Taubenhaltung im Kopf, nämlich in erster Linie Rolf und seine beiden jüngeren Brüder Peter und Klaus über die schwierigen Zeiten zu bringen. Mit Botengängen für ältere Menschen und Einsammeln des herumliegenden Kriegsschrotts kam er auf Anhieb zur aus damaliger Sicht stattlichen Summe von DM 1.80. Mehr als die Hälfte der DM 1.80 wurde für den Taubenkauf sowie Futter und Unterbringung der Tiere sofort verplant. Der Weg führte zum Taubenfreund Petersen in der benachbarten Breitstr. zu dessen teilweise zerbombten Haus, das auch die Tauben in einem ehemaligen Wohnzimmer beherbergte. Der 2 Jahre jüngerer Bruder Peter wurde zur „Seriositäts-unterstützung“ mitgenommen. Er bestätigte eine nicht existierende „Kauf-erlaubnis“ der völlig ahnungslosen Eltern, eine bis dahin nur in den Jungenköpfen existierende Taubenunterkunft. Züchter Petersen verlangte nicht mehr als 1.00 DM. Sie erhielten zwei wunderschöne piepjunge, belatschte Wiener Hochflieger, dazu Futter für 2 Tage, das sofort und nicht verräterisch in Rolfs Hosentasche verschwand. Beides machte die beiden Jungen selig vor Glück. Zu Hause ging es mit den Heimlichkeiten weiter. Während Rolf mit den Tauben unter der Jacke jeder Elternbegegnung auszuweichen verstand, besorgte Peter den Dachbodenschlüssel. Zunächst wohnten die beiden Wiener in einem rasch leergeräumten Bücherkasten. Sehr zügig wurde dieser ersetzt durch eine erbettelte Apfelsinenkiste, denn das Fehlen des Ersten durfte ja nicht auffallen.

Die Unruhe beim ständigen Treppenlaufen der Jungs, konnte auf Dauer Mutter Richter sicherlich nicht verborgen bleiben. So lebten die Jungen in ständiger Angst, war doch jegliche Haustierhaltung strikt verboten. Die Tauben mussten unbedingt längere Zeit alleine bleiben können. Auf der Suche nach  Lösungs-möglichkeiten entdeckte Rolf einen erhabenen Podestplatz für die „Tauben-apfelsinenkiste“ allein über die Schornsteinfegerstiege zu erreichen, direkt neben der Dachluke für den Ein und Ausstieg. Als das Taubenfutter ausging, gab es erneut Geldprobleme. Wieder fand Rolf die Lösung in einer nachkriegsbezogenen Alltagssituation – heute undenkbar. Auf mütterliche Anordnung musste der jüngere Klaus täglich ein bis zwei Stunden in der Kinderkarre ausgefahren werden. Auf diesen Wegen begegnete Rolf immer wieder Mädchen aus der nahen Umgebung. Ebenso beim Spazierenfahren – mit ihrem Lieblingsspielzeug damaliger Zeit. Ein so lebendiges kleines Menschen-  kind wie Brüderchen Klaus zu steuern und zu umsorgen – sie rissen sich darum! Der „Klaus-Vermietungspreis“ lag – je nach Fahrdauer – zwar nur bei 2 bis10 Pfennigen, aber die steigende Nachfrage aus der kinderreichen Nachbarschaft ließ das „Futtergeschäft“ aufblühen.

Es nahte der ersehnte Tag, an dem der Taubenflug endlich starten sollte. Bei den alterfahrenen Altonaer Züchtern hatten sich die Jungen abgeguckt, dass allein sehr knappe Futtergaben zur Handzahmheit und zu einem prompten Anfliegen des „Apfelsinenkistenheims“ führten. Dieses erreicht, erfolgten nach vorsichtigem Öffnen der Dachluke zuerst kurze, dann zunehmend ausgedehntere Flugversuche und nach drei Tagen schon eine ununterbrochene Runde um den gesamten Wohnblock. Rolf war rundum glückselig!  Doch dann geschah Unerwartetes: Die beiden Wiener steckten voller Freude und Drang zu fliegen. Die großmaschige Drahtabdeckung kam den Tauben entgegen. Die schlanken Flieger schlüpften problemlos hindurch und erkundeten bald sämtliche Bodenabteile. So verwunderte es nicht, dass Nachbarin Frau Hinrichs das gesamte Haus wegen „wilder, unter dem Dach eingedrungener Tauben“ in Aufruhr brachte, die alles, darunter auch ihren wertvollen Pelzmantel, verschmutzt hatten.

Zu Rolfs grossem Glück konnte Frau Hinrichs Stadttauben von fast weißen Wienern nicht unterscheiden, und so blieb das Taubengeheimnis vor der Mutter verborgen. Die beiden Frauen forderten Rolf und Peter sehr energisch auf, eiligst die „Wildtauben“ einzufangen. Aus Angst, doch noch entdeckt zu werden, sorgten Rolf und Peter ihrerseits für Tempo. Lockfutter wurde gestreut, die Apfelsinenkiste über die Tauben gestülpt. Und die günstige Gelegenheit genutzt, dass der kommende Tag ein Sonntag war. An allen Sonntagen wurde, in Altona der „Hamburger Fischmarkt“ abgehalten. In Wirklichkeit ein Markt für alles, so auch für Tauben. Erster Taubenhändler vor Ort war Herr Kobbe, den Rolf auch noch 20 Jahre später an gleicher Stelle antraf. Er gab den Jungen nur 50 Pfennige ( für die zwei Wiener ). Immer wieder suchten die beiden Wiener bei ihrem Neubesitzer das Weite und kehrten zurück. Über den „Wiederverkauf“ ergab sich noch ein Gewinn von 1 DM.

Rolfs erste große Taubenliebe währte nicht einmal einen Monat. Vergessen, verloren war sie damit jedoch noch lange nicht!

Walter Stettler CH Binningen www.flugtippler.ch

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